Fehlurteil als Chance zur Stärkung der Kinderrechte

Letztes Jahr erhitzte ein Bundesgerichtsentscheid zur Rechtsvertretung von Kindern die Gemüter von Fachpersonen, die sich für die Kinderrechte in der Schweiz einsetzen. Eine Jury aus Rechtsprofessoren der juristischen Fachzeitschrift Plädoyer hat diesen Entscheid des Bundesgerichts zum “Fehlurteil des Jahres 2016” erkoren.

Kinderanwaltschaft Schweiz begrüsst die Aufmerksamkeit, die dem Entscheid durch diesen unrühmlichen Sieg zukommt. Wir sehen darin eine Chance, die dringend notwendige Klärung der Rolle der Rechtsvertretung von Kindern voranzutreiben.

Zur Erinnerung – der Bundesgerichtsentscheid befasste sich mit der Rechtsvertretung von Kindern und vertritt folgende Position:

  • Der Prozessbeistand hat in erster Linie das objektive Kindeswohl zu ermitteln (E. 5.2.2). Die Kindesvertretung ist nur notwendig, wenn sie dem Gericht effektiv zusätzliche Unterstützung und Entscheidungshilfen bieten kann (E. 5.1.2.). 
     
  • Da es sich bei einer Kindesvertretung nicht um eine anwaltliche Tätigkeit handelt, ist davon auszugehen, dass der anwaltliche Verfahrensbeistand den Ausnahmefall bildet (E. 5.3.4.1.).

Aufgrund dieser Aussagen sieht die Jury der Zeitschrift Plädoyer das Kind "zum Objekt degradiert”. Für uns bedeutet die Argumentation des Bundesgerichts ebenfalls einen klaren Rückschritt – wir haben im letzten Jahr ausführlich zum Entscheid Stellung bezogen. 

Kinder und Jugendliche im Verfahren

In verschiedenen gesetzlichen und behördlichen Verfahren, in denen Kinder und Jugendliche involviert sind, ist die Einsetzung einer Rechtsvertretung gesetzlich festgelegt – so zum Beispiel in Kindesschutzverfahren in Art. 314abis ZGB. Bezüglich Rolle und Aufgaben der Rechtsvertretung besteht in der Schweiz jedoch noch keine einheitliche Regelung. Wir sehen in der Diskussion rund um den Entscheid des Bundesgerichts die Chance, zu einer Klärung beizutragen. Die Rechtsvertretung darf kein Gehilfe oder “verlängerter Arm” des Gerichts sein, sondern dient einzig dem Kind und vertritt die Perspektive und Anliegen des Kindes. Sie muss einheitlich folgende Aufgaben wahrnehmen:

  • Sie vertritt Kinder und Jugendliche unabhängig.
     
  • Sie begleitet und unterstützt Kinder und Jugendliche in ihrem Meinungsbildungsprozess und gibt ihnen eine eigene Stimme.
     
  • Sie sichert die Partizipation von Kindern und Jugendlichen im gesamten Verfahren.
     
  • Sie spricht mit den Kindern und Jugendlichen realistisch über ihre jeweilige Situation und mögliche Lösungen und hilft ihnen dabei, eine schwierige Lebenssituation emotional gestärkt zu meistern.
     
  • Sie spricht mit den Kindern und Jugendlichen und ermittelt und vertritt den Kindeswillen. Sie stellt sicher, dass dieser gehört und beachtet wird.

Die Rechtsvertretung bringt die Anliegen von Kindern und Jugendlichen im Verfahren ein und achtet darauf, dass ihr Wille von den Behörden und Gerichten auch wahrgenommen wird.

So sieht das auch Christof Riedo, Rechtsprofessor und Plädoyer Jury-Mitglied, der in der Begründung der Wahl zum Fehlurteil erläutert, dass es nicht genügt, den betroffenen Kindern und Jugendlichen während des Verfahrens die Hand zu halten. Kinder und Jugendliche brauchen Unterstützung durch eine Rechtsvertretung, die unabhängig und kompetent ihren Willen vertritt und ihre subjektiven Anliegen wahrnimmt.

Kindeswille als zwingender Bestandteil des Kindeswohls

Professor Roland Fankhauser von der Universität Basel begründet die Wahl zum Fehlurteil auch damit, dass der Entscheid diametral dem aktuellen Meinungsstand in der Lehre und der langjährigen kantonalen Praxis widerspricht – ein Rückschritt, weil das Kind wieder als Objekt betrachtet wird.

Im Gegensatz zu früheren Auffassungen, nach denen das Kind unter paternalistischem Schutz stand, wird es heute als Subjekt mit eigenen Rechten und Interessen gesehen. Es ist deshalb die anwaltschaftliche Aufgabe der Rechtsvertretung, das Kind als Subjekt mit eigenem Willen wahrzunehmen und zu stärken. Die aktuelle Forschung belegt, dass diese Wahrnehmung von Kindern und Jugendlichen richtig und wichtig ist: Die Resilienz junger Menschen wird dann gestärkt, wenn diese in ihrer Meinung ernst genommen werden, sie Selbstwirksamkeit erfahren und Lösungsprozesse aktiv mitgestalten können. Es ist die Aufgabe der Rechtsvertretung, den Kindeswillen zu eruieren und diesen gegenüber Behörden und Gerichten zu vertreten. Der Kindeswille ist zwingender Bestandteil des Kindeswohls. 

In der UN-KRK (Art. 3 und 12) sowie in den praxisorientierten Leitlinien des Europarates für eine kindgerechte Justiz stellt die Partizipation von Kindern und Jugendlichen in sie betreffenden gerichtlichen und verwaltungsrechtlichen Verfahren ebenfalls einen der wichtigsten Punkte dar. Wird der Kindeswille negiert, verkommt die Partizipation zu einer Farce und die Kinder und Jugendlichen werden zurück in die ohnmächtige Position am Rande des Geschehens verdrängt. 

Damit Kinder und Jugendliche mit ihren Rechten und Anliegen unterstützt und wahrgenommen werden, müssen Rolle und Aufgaben der Rechtsvertretung im Sinne der Kinderrechte und der Leitlinien für eine kindgerechte Justiz klar sein. Kinderanwaltschaft Schweiz setzt sich darum für eine klare Aufgabenbeschreibung und  für die Definition der Rolle und Standards für die Tätigkeit als Rechtsvertretung ein. Auch hat sie dazu eine Checkliste entwickelt mit Indikatoren im Kindesschutz wann eine Rechtsvertretung eingesetzt werden soll.
Sie zertifiziert Kinderanwältinnen und Kinderanwälte. Mit der Zertifizierung wird sichergestellt, dass als Rechtsvertretung tätige Kinderanwältinnen und Kinderanwälte über entsprechende Aus- und Weiterbildungen verfügen, insbesondere in Entwicklungspsychologie und Gesprächsführung mit Kindern und Jugendlichen sowie in juristischen und verfahrensrechtlichen Fragen.

Hier geht es zur Checkliste: Einsetzung einer Rechtsvertretung des Kindes