Kinder in sehr schwierigen Familiensituationen sind als Heranwachsende und auch noch im Erwachsenenalter oftmals mit besonderen Hürden konfrontiert. Verletztes Urvertrauen und mangelnder Selbstwert resultieren nicht selten in Betäubungsmittel- oder Alkoholmissbrauch, in Gewalt, Kriminalität und Wiederholungen von negativen Mustern sowie Abhängigkeiten. Es gibt jedoch immer wieder Kinder, die es trotz schwieriger Umstände schaffen, die Situation zu meistern und für sich ein gutes Leben einzurichten. Ob ein Kind in einer derart schwierigen Situation als Heranwachsender einen selbstverletzenden oder einen heilenden Weg beschreitet, hängt wesentlich von seiner Resilienz ab – der Fähigkeit, schwierigste Umstände in innere Stärke zu wandeln.
Wie entsteht diese Resilienz? Verschiedene Faktoren spielen dafür eine Rolle, etwa Selbstwirksamkeit, Problemlösefähigkeiten und Beziehungsfähigkeit. Details können hier nachgelesen werden.
Es müssen nicht immer die Eltern sein
Stabile Beziehungen sind für Kinder lebenswichtig. Sie fördern die Resilienz, vermitteln Problemlösefähigkeiten und Strategien für die Konfliktbewältigung. In Situationen, in denen die Eltern Liebe, Stabilität oder Fürsorge nicht oder nur ungenügend bieten, können manchmal Drittpersonen diese Lücke füllen. In der Praxis wird diese Rolle von Grosseltern, Stiefeltern, eingetragenen Partner/innen, Lebenspartnern von einem Elternteil, Pflegeeltern oder anderen Verwandten sowie Freunden der Familie wahrgenommen.
In rechtlich relevanten Situationen jedoch, beispielsweise bei einer Trennung der Eltern, hat das Kind derzeit keine Möglichkeit, solche Beziehungen zu Drittpersonen einzufordern – und dies, obwohl sich das Kind gerade dann in einer besonders vulnerablen Situation befindet. Wir erachten es deshalb als zwingend, dass Kinder und Jugendliche einen durchsetzbaren Anspruch auf persönlichen Kontakt mit Dritten haben. Dieser Anspruch sollte unabhängig von juristischen Kategorien gegeben sein, das heisst, ausschliesslich an der affektiv gelebten Beziehung bemessen werden.
Der Kindeswille entscheidet die Beziehung zur Drittperson
Inwiefern die Beziehung zur Drittperson für das Kind wichtig ist, muss im Rahmen der Partizipation beurteilt werden – mit der Eruierung des Kindeswillens bei der Anhörung. Das Kind soll mitteilen können, zu wem es stabile Beziehungen hat und mitentscheiden, zu wem es diese auch weiterführen möchte.
Die hohen Hürden, die derzeit in der juristischen Praxis bei der Umsetzung des persönlichen Verkehrs zu Dritten herrschen, liegen nicht im Interesse des Kindes. Um das Rechtssystem für Kinder und Jugendliche in der Schweiz gemäss den europäischen Leitlinien für ein kindgerechtes Rechtssystem umzusetzen, engagieren wir uns mit einer Allianz von Partnerorganisationen (OSKR-Allianz) für die Integration einer Ombudsstelle für Kinderrechte in die NMRI (Nationale Menschenrechtsinstitution).
Auf den rechtlichen Status Quo sowie die prozessuale Geltendmachung von Ansprüchen geht die nachfolgende Infobox ein.
Gesetzliche Grundlage
Art. 274a
1 Liegen ausserordentliche Umstände vor, so kann der Anspruch auf
persönlichen Verkehr auch anderen Personen, insbesondere Verwandten,
eingeräumt werden, sofern dies dem Wohle des Kindes dient.
2 Die für die Eltern aufgestellten Schranken des Besuchsrechtes gelten
sinngemäss.
Anwendung der Norm in der juristischen Praxis
Kind als Adressat der Norm
Nach Wortlaut ist das Kind nicht explizit Adressat der Norm. Der Anspruch des Kindes auf persönlichen Verkehr mit Drittpersonen basiert jedoch auf dem Persönlichkeitsrecht nach Art. 28 ZGB sowie dem Grundrecht auf persönliche Freiheit, Art. 10 Abs. 2 BV.
Antragsrecht des Kindes
Gemäss Art. 12 Kinderrechtskonvention haben Kinder das Recht auf Teilnahme an Verfahren und die Legitimation, ihre Ansprüche klageweise geltend zu machen. Nach Art. 19c Abs. 1 ZGB entscheiden urteilsfähige Kinder bei höchstpersönlichen Rechten selbstständig.
Ausserordentliche Umstände
In der bisherigen Rechtsprechung besitzt Art. 274a ZGB einen Ausnahmecharakter, wobei Dritten nur bei ausserordentlichen Umständen – sei es wenn die Eltern sterben oder langfristig verhindert sind – ein Anspruch auf persönlichen Verkehr mit dem Kind eingeräumt wird. Diese Praxis greift zu kurz. Die neuere Lehre argumentiert aus Sicht des Kindes, dass bereits das Auseinanderbrechen bzw. Auflösen des Haushalts oder andere unerwartete Ereignisse (z.B. Bruch im sozialen Umfeld), ausserordentlich Umstände darstellen. Dieser Sichtweise ist zuzustimmen.
Dem Kindeswohl dienen
Der Nachweis, dass der persönliche Verkehr mit der Drittperson dem Kindeswohl dienen muss, ist in der Praxis sehr schwer zu erbringen und führt dazu, dass der persönliche Verkehr nur in Ausnahmefällen mit Dritten geregelt wird. Alle Entscheidungen im Familienrecht sind jedoch im übergeordneten Kindesinteresse zu fällen, sodass einer zusätzlichen Beweispflicht im Sinne der „Dienlichkeit des Kindeswohls“ überflüssig erscheint. Der Erhalt positiver affektiver Beziehungen liegt grundsätzlich immer im übergeordneten Kindesinteresse.
Affektive Verbundenheit
Für die Durchsetzung des persönlichen Verkehrs mit Dritten braucht es den Nachweis einer „affektiven Verbundenheit“ zum Kind. Dieser Nachweis ist sehr schwer zu erbringen, da innere, emotionale Zustände mittels äusserer Indizien zu belegen sind (z.B. Führung eines gemeinsamen Haushaltes mit dem Kind). Gerade bei Säuglingen und Kleinkindern bestimmt sich erst nach und nach, wer zum Kind eine emotionale Beziehung aufbauen und bewahren kann.
Fazit
Die hohen Hürden, die derzeit in der juristischen Praxis bei der Umsetzung des persönlichen Verkehrs mit Dritten herrschen, liegen nicht im Interesse des Kindes. Es ist daher unerlässlich, dass Kindern ein Anspruch auf die Regelung des persönlichen Verkehrs mit Dritten eingestanden wird und formelle Juristerei, welche zu einer restriktiven Anwendung der Norm führt, aufgegeben wird. Tendenzen der neueren Lehre, formaljuristische Kriterien niederzulegen und sich bei der Bemessung des persönlichen Verkehrs mit Dritten an den affektiv gelebten Beziehungen zu orientieren, sind zu begrüssen und weisen in eine korrekte und lebensnahe Richtung.
Für weitere Informationen siehe:
Postulat von NR Federer-Schmid
eingereicht 19.6.2015
Gisela Kilde, Der persönliche Verkehr: Eltern – Kind – Dritte, zivilrechtliche und interdisziplinäre Lösungsansätze, Schulthess 2015