Meilenstein auf dem Weg zu einer kindgerechten Justiz in der Schweiz bis im Jahr 2020

Fr., 06.02.2015 - 13:00

Der 21. und 22. Januar 2015 waren wichtige Tage für Kinderrechte in der Schweiz: Eine Delegation der Schweizer Regierung wurde in Genf vom UN-Kinderrechtsausschuss zur Situation der Kinderrechte in der Schweiz befragt. Der Ausschuss prüfte zum zweiten Mal nach 2002, ob und wie die Schweiz ihre Verpflichtungen der UN-Konvention über die Rechte des Kindes umsetzt. Diese Überprüfung ist eine Folge der schweizerischen Ratifizierung der UN-Kinderrechtskonvention im Jahr 1997. Die Konvention garantiert allen Kindern grundlegende Rechte auf Überleben, Entwicklung, Schutz und Beteiligung.

Empfehlungen positiv gewertet

Am 4. Februar 2015 wurden die aus der Befragung resultierenden 108 Empfehlungen (Concluding Observations) des UN-Kinderrechtsausschusses veröffentlicht. Es ist eines der wichtigsten Referenzdokumente für alle öffentlichen und privaten Organisationen, die sich in der Schweiz für Kinderrechte einsetzen. Auch wir von Kinderanwaltschaft Schweiz haben die Ergebnisse mit Spannung erwartet. Nach eingehender Lektüre werten wir die Empfehlungen als positiv. Sie bedeuten für Kinder und Jugendliche eine grosse Chance. Gemeinsam mit allen Beteiligten – wie Bund, Kantonen, Behörden, Ämtern, Gerichten, Jugendstrafrechtspflege, Staatsanwaltschaft und der Polizei – wird es gelingen, dass die Schweiz das Ziel einer kindgerechten Justiz verwirklicht. Die Schweizer Regierung ist aufgefordert, den nächsten Bericht zur Umsetzung der heutigen Empfehlungen am 25. September 2020 vorzulegen.

Ziel der vollständigen Umsetzung bis im Jahre 2020

Unser Programm lautet “Child-friendly Justice 2020” und sieht vor, dass bis zum Jahr 2020 die Leitlinien des Europarates für eine kindgerechte Justiz in der Schweiz einheitlich angewendet werden. Nebst der UN-Kinderrechtskonvention sind die Leitlinien des Europarates aus dem Jahre 2010 das wichtigste Instrument für eine kindgerechte Justiz. Die Leitlinien finden immer dann Anwendung, wenn Kinder mit Gerichten oder Behörden in Kontakt kommen und sind ausserdem als Unterstützung für Mitarbeitende von Behörden und Gerichten gedacht.

Wichtigste Empfehlungen aus Sicht von Kinderanwaltschaft Schweiz

Grundsätzlich empfiehlt der Bericht der Schweiz sicherzustellen, dass das Recht des übergeordneten Wohls des Kindes integriert und konsistent in allen gesetzgeberischen, administrativen und gerichtlichen Verfahren und Entscheidungen angewandt wird. Auf dem Weg zu einer kindgerechten Justiz erachten wir von Kinderanwaltschaft Schweiz zudem die folgenden Empfehlungen als besonders bedeutend:

  • Recht auf Gehör und Meinungsäusserung
    Die Concluding Observations bestätigen, was Kinderanwaltschaft Schweiz mit Überzeugung fordert: das Recht auf Gehör und Meinungsäusserung von Kindern muss gestärkt werden. Dieses Recht ist uns deshalb so wichtig, da es den weiteren Lebensweg von Kindern und Jugendlichen, die mit Behörden und Gerichten in Kontakt kommen, prägt. Von Verfahren betroffene Kinder und Jugendliche befinden sich oft in einem sehr verletzlichen emotionalen Zustand. Hinter der Mehrzahl von ihnen liegen traumatische Erfahrungen – sie haben Angst, Ohnmacht oder Missbrauch erlebt. Der im Zusammenhang mit dem Recht auf Meinungsäusserung relevante Resilienz-Faktor ist die Fähigkeit, das eigene Schicksal selber beeinflussen zu können. Dadurch, dass Kinder und Jugendliche in ihrer Meinung ernst genommen werden, sie Selbstwirksamkeit erfahren und Lösungsprozesse aktiv mitgestalten können, wandeln sie sich von Opfern zu starken jungen Menschen. Eine Erfahrung, die den ganzen weiteren Lebensweg mitbestimmt.

  • Recht auf Rechtsvertretung
    Kinder sollen wissen, dass sie Rechte und Pflichten haben, die sie einfordern können, wie beispielsweise das Recht angehört zu werden. Besonders bei Entscheiden mit zentraler Wirkung muss eine unabhängige, auf Kinder spezialisierte Rechtsvertretung eingesetzt werden. Eine Rechtsvertretung erhält vollständige Akteneinsicht und stellt auch das Informiertsein und die Partizipation der Kinder sicher. 

  • Fort- und Weiterbildung von Fachpersonen
    Ganz klar empfohlen wird die systematische Schulung von Professionellen in rechtlichen und allen anderen Sektoren dahingehend, wie Kinder sinnvoll miteinbezogen werden können. Ebenfalls ist es wichtig sicherzustellen, dass Vertrauenspersonen, die mit unbegleiteten Minderjährigen arbeiten, richtig ausgebildet sind. 

  • Ombudsstelle
    Empfohlen wird ein unabhängiger Mechanismus, der die Beschwerden von Kindern entgegen nimmt, sie untersucht und in einer kindgerechten Art vorbringt. Diese Empfehlung können wir in ihrer Dringlichkeit nur unterstützen. Insbesondere besteht in der Schweiz derzeit die Situation, dass sich die nicht urteilsfähigen Kinder in einem rechtslosen Zustand befinden. Es braucht ein Gesetz, welches statuiert, dass nicht urteilsfähige Kinder immer eine Rechtsvertretung, eine sogenannte unentgeltliche Rechtspflege, erhalten und es braucht eine Ombudsstelle mit entsprechenden Handlungskompetenzen, die im Namen des Kindes tätig werden kann.

Wir setzen uns jeden Tag mit Überzeugung dafür ein, dass wir das Ziel einer kindgerechten Justiz bis im Jahr 2020 erreichen werden.

Die Umsetzung von Kinderrechten ist sowohl für eine gesunde Gesellschaft, als auch für die einzelnen Betroffenen zwingend wichtig. Zusammen mit allen öffentlichen und privaten Institutionen und Personen setzen wir uns jeden Tag für eine Integration dieser Rechte im schweizerischen Justizalltag ein.

Irène Inderbitzin

Geschäftsführerin
Kinderanwaltschaft Schweiz