Eine kindgerechte Justiz zur Stärkung der Kinder

Do., 17.11.2016 - 20:36

Kinder, die mit dem Schweizer Rechtssystem in Kontakt kommen, befinden sich meist in emotional belastenden Situationen. Dies gilt sowohl für ältere Kinder, die kognitiv bereits ein Verständnis für ihre Situation aufbringen können, als auch für Kleinkinder, die der Situation gänzlich emotional gegenüberstehen. Die Gefühle von Angst und Ohnmacht beherrschen sie bereits lange vor einem gerichtlichen und verwaltungsrechtlichen Kontakt. 

Aus diesem Grund wird ein kindgerechtes Rechtssystem benötigt, welches die Kinder in ihrem verletzlichen emotionalen Zustand vor Gefahren schützt, ihrer Angst entgegenwirkt und sie stärkt. Es muss zwingend verhindert werden, dass die negativen Erlebnisse von den oftmals traumatisierten Kindern wiederholt und dadurch verstärkt werden.

Die Partizipation, ein Grundpfeiler des kindgerechten Rechtssystems, spielt dabei eine zentrale Rolle. Dank ihr erlebt das Kind einen Wechsel von passiver Ohnmacht zu aktiver Teilnahme – ein Prozess, der bereits ab dem Kleinkindalter möglich und wichtig ist. Das Kind lernt Selbstwirksamkeit und im Zuge dessen stärkt sich seine Resilienz.

Gibt es ein Zuviel oder Zuwenig an Partizipation?

Partizipation ist in jedem Fall wichtig und richtig – einzig auf die richtige Anwendung und Einschätzung kommt es an. Oftmals besteht bei Behördenmitgliedern oder Richterinnen und Richtern die Angst, dass insbesondere Kleinkindern durch Partizipation zu viel zugemutet wird. In der Folge werden die Kinder “vor Überforderung geschützt”. Andere Gründe dafür, dass Partizipation in der Praxis quasi übersprungen wird, sind Zeitmangel und Erfahrungswerte. Damit dies nicht geschieht, bietet das 9-Stufen-Modell nach Sherry Arnstein eine nützliche Hilfestellung für Fachpersonen, die mit Kindern in Verfahren in Kontakt sind.

Partizipation soll immer stattfinden – die richtige Stufe ist entscheidend

Anhand dieses 9-Stufen-Modells lässt sich situationsbezogen entscheiden, welche Partizipationsstufe sinnvoll und geeignet ist. Faktoren, welche diese Beurteilung begründen, sind die Urteilsfähigkeit des Kindes, der Entwicklungsstand, das Alter sowie der Rahmen und der Inhalt des Entscheids. So sehen die 9 Stufen aus:

Nicht-Partizipation: Kinder und Jugendliche haben keine Mitbestimmung

Stufe 1 ist die Instrumentalisierung – das eigentliche Gegenteil der Partizipation. Kinder und Jugendliche werden dabei nicht nur nicht in Entscheidungen mit einbezogen, sondern auch von den Entscheidungsträgern für deren persönliche Zielerreichung benutzt. Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn kleine Kinder durch einen Elternteil instrumentalisiert werden, eine Aussage zu machen, ohne zu verstehen wofür. Instrumentalisierung darf nie angewendet werden.

Auf Stufe 2 nehmen die Entscheidungsträger die Kinder und Jugendlichen zwar wahr, kommunizieren jedoch direktiv mit den Kindern im Sinne einer Anweisung. Die Meinung der Kinder bleibt unberücksichtigt. Zum Beispiel bei der Erteilung von superprovisorischen Massnahmen kann dies richtig und wichtig sein. Insbesondere im Bereich des Kindesschutzes bei akuter Gewalt oder sexueller Ausbeutung muss das Kind sofort geschützt werden.

Vorstufen der Partizipation: Hierbei handelt es sich um eine zunehmend starke Einbindung der Kinder und Jugendlichen in Entscheidungsprozesse. 

Auf Stufe 3 – der Information – werden die Kinder informiert. Die Entscheidungsträger erklären und begründen ihnen dabei, welche Handlungsmöglichkeiten für die jeweiligen Situationen zur Verfügung stehen und informieren sie über das konkrete Vorgehen. Hierbei geht es insbesondere darum, das Kind über seine Partizipationsmöglichkeiten zu informieren oder auch Entscheide zu begründen. In der Praxis wird dies beispielsweise dann angewendet, wenn ein Sozialarbeiter dem Kind erklärt, wie eine Abklärung abläuft oder wenn der Besuchsrechts-Beistand das Kind über den Ablauf am Besuchstreff informiert.

In der rechtlichen Praxis sehr wichtig ist die Stufe 4 – die Anhörung. Der Kindeswille muss gehört und auch in die Entscheidungsfindung miteinbezogen werden. Entscheidet die Behörde zwar im Sinne des Kindesinteresses, jedoch entgegen dem Kindeswillen, muss dem Kind angepasst an seinen Entwicklungsstand und seine Kompetenzen erklärt werden, weshalb seinem Willen nicht entsprochen werden konnte. In der Praxis kommt dies oftmals zum Zuge im Rahmen der Abklärung einer möglichen Platzierung, in der Schule bei einer Versetzung oder Stufeneinteilung oder bei therapeutischen Abklärungen. Inwiefern der Wille des Kindes einbezogen wird, kann nicht vom Kind beeinflusst werden. Durch Anhörung alleine wird aber noch keine wirkungsvolle Partizipation garantiert – wir haben darüber gebloggt.

Stufe 5 ist die Einbeziehung. Dem Kind nahestehende Personen oder auch Fachpersonen wie Gutachter/innen und Abklärer/innen werden von Behördenmitgliedern zur Beratung einbezogen. Gutachten haben jedoch keinen verbindlichen Einfluss. Die Entscheidung wird ausschliesslich durch das multidisziplinäre Team der Behördenmitglieder gefällt. Dies kann dann der Fall sein, wenn ein/e Gutachter/in ein Kleinkind in seinem Verhalten beobachtet.

Echte Partizipation: Kinder und Jugendliche tragen eine formale und verbindliche Rolle in der Entscheidungsfindung. 

Stufe 6 – Mitbestimmung: Anders als bei der Anhörung werden Kinder hier nicht nur von den Entscheidungsträgern befragt, sondern sie erhalten ein Mitspracherecht. Die Entscheidungsfindung wird direkt vom Kind beeinflusst. Es findet ein Austausch mit dem Kind statt und es wird zu den Möglichkeiten der Mitbestimmung informiert und angeleitet. Es kann zu Verhandlungen zwischen dem Kind und den Entscheidungsträgern kommen, wie beispielsweise nach einer Scheidung bezüglich des Aufenthalts und des Kontakts mit den Eltern.

Auf Stufe 7 wird die Entscheidungskompetenz teilweise übertragen. Bestimmte Aspekte können von den Kindern selbstverantwortlich bestimmt werden. Bei einer Fremdplatzierung kann das Kind aus einer Auswahl an Heimen mitentscheiden oder ein Jugendlicher kann sich entscheiden, die Reise zum Elternteil selbstständig zu machen. Die Verantwortung für diese Entscheidung halten jedoch nicht die Kinder inne, sondern Erwachsene, beispielsweise die sie betreuenden Fachpersonen.

Auf Stufe 8 des Modells fällen kurz vor der Volljährigkeit stehende Jugendliche bereits alle wesentlichen Aspekte der Entscheidungen, die von ihnen in Eigenkompetenz getroffen werden können: Zum Beispiel Entscheide über die Lehrstellensuche oder den Wechsel des Wohnorts. Es herrscht Gleichberechtigung zwischen den Jugendlichen und den ehemaligen Entscheidungsträgern, denen nunmehr eine begleitende oder unterstützende Rolle zukommt.

Geht über Partizipation hinaus: Diese Stufe umfasst alle Formen selbst organisierter Massnahmen, die nicht unbedingt als Folge eines partizipativen Entwicklungsprozesses entstehen, sondern von Anfang an selbst initiiert werden können.

Die finale Stufe 9 geht bereits über Partizipation hinaus, denn sie umfasst unter dem Titel “Selbstorganisation” alle Formen selbstorganisierter Entscheidungen. Beispielsweise wenn sich Jugendliche zusammenschliessen und ein Projekt selbst initiieren und durchführen.

Wirkung des Modells: Keine Unter- oder Überforderung

Kinder profitieren von der Anwendung dieses Modells, da es hilft, die Balance zwischen Unter- und Überforderung zu halten. Eine zu hohe Partizipationsstufe kann dann zu Überforderung führen, wenn die kindliche Entwicklung noch nicht an diesem Punkt ist. Kinder sollen daher nicht mit Themen und Entscheidungen konfrontiert werden, die sie nicht bewältigen können. Ist die Stufe zu tief, führt dies bei Kindern und Jugendlichen zu einem Ohnmachtsgefühl und Rückzug. Mit dem 9-Stufen-Modell kann deshalb situativ richtig entschieden werden. Eine solche Handhabung entspricht auch den Leitlinien für eine kindgerechte Justiz des Europarates: Kinder sollen ihrem Entwicklungsstand entsprechend partizipieren können.

Kindgerechtes Rechtssystem stärkt Kinder nachhaltig

Wie eingangs erläutert, spielt die rechtliche Partizipation eine zentrale Rolle für das Empfinden sowie den Umgang des Kindes mit der meist belastenden Situation, in der es sich befindet. Die Akzeptanz des Urteils wird durch Partizipation massiv erhöht.

Partizipation ist ein Lernprozess, den sowohl die partizipierenden Kinder, als auch die begleitenden Erwachsenen durchlaufen müssen. Um die bestehenden Lücken bei der Umsetzung wirkungsvoller Partizipation von Kindern in der Praxis zu schliessen, plädieren wir für Fort- und Weiterbildungen aller Fachpersonen, die mit Kindern und Jugendlichen beruflich in Kontakt stehen. Die Anwendung von Partizipation in rechtlichen Verfahren setzt eine aktive Grundhaltung der beteiligten Personen voraus. Diese Grundhaltung ist die zwingende Voraussetzung dafür, dass Kinder den ihnen zustehenden Gestaltungsspielraum wahrnehmen können und durch ihre Mitbestimmung die für ihren weiteren Lebensweg so wertvolle Selbstwirksamkeit erfahren.