Gerade die Jüngsten unter uns sind auf ein gut funktionierendes Justizsystem angewiesen. Jährlich sind rund 2.5 Millionen Kinder in Europa – in der Schweiz sind es unserer Schätzung nach rund 100’000 – in gerichtliche oder verwaltungsrechtliche Verfahren involviert. Doch werden ihre Stimmen wirklich gehört? Wie weit sind die EU-Mitgliedstaaten in der Umsetzung der Leitlinien des Europarates für eine kindgerechte Justiz?
Mit dieser Frage hat sich die FRA (European Union Agency for Fundamental Rights) auseinandergesetzt. Für ihren Bericht “Kinderfreundliche Justiz” wurden 392 Kinder aus den EU-Mitgliedstaaten Bulgarien, Kroatien, Estland, Frankreich, Deutschland, Polen, Rumänien, Spanien und Grossbritannien im Alter von 7 bis 15 Jahren interviewt. Alle befragten Kinder waren direkt an einem gerichtlichen oder verwaltungsrechtlichen Verfahren beteiligt.
Der Bericht zeigt auf, was auch die Kinderanwaltschaft Schweiz aufgrund ihrer Erfahrungen bereits festgestellt hat: Es wird kaum auf die Bedürfnisse der Kinder eingegangen und oft fühlen sie sich vom Personal zu wenig ernst genommen. Aufgrund dieser Ergebnisse unterstreicht auch die FRA die Bedeutung einer Ombudsstelle für Kinder und Jugendliche. Sie hat zudem eine nützliche Checkliste (siehe unten) für Fachpersonen und Interessierte erarbeitet. Darin wird dargelegt, wie jedem Kind eine individuelle Rechtsunterstützung ermöglicht und dadurch das gesamte Rechtssystem kindgerechter gemacht werden kann.
Eine Justiz nur für Erwachsene
Oft geht vergessen, dass nicht nur wir Erwachsenen, sondern auch Kinder direkt mit dem Rechtssystem in Kontakt treten. Damit ein Kind an einem Verfahren teilnehmen kann, muss es primär seine Rechte kennen. Die Untersuchung hat gezeigt, dass dies in der Praxis nicht der Fall ist: Die Kinder wissen kaum über die vorhandenen Rechtsinstitutionen oder ihre eigenen Rechte Bescheid. Und falls ihnen Informationen zur Verfügung stehen, werden diese nicht kindgerecht vermittelt.
Die Befragungen finden in kargen Räumen statt und werden häufig von ungeschultem Personal oder nicht in der Muttersprache der Kinder durchgeführt. Die Kinder fühlen sich daher bei den Befragungen oft unwohl oder sogar eingeschüchtert. Umso wichtiger wäre es daher, dass sie über die Möglichkeit einer eigenen Rechtsvertretung informiert werden.
Jedes Land braucht eine Ombudsstelle für Kinder und Jugendliche
Um die dringend notwendigen Änderungen im Rechtssystem herbeizuführen, braucht es in jedem europäischen Land eine übergreifende Institution, die für die Rechte der Kinder einsteht: eine Ombudsstelle für Kinderrechte (OSKR). Die OSKR soll Kinder und Jugendliche beraten, die mit dem Rechtssystem in Berührung kommen und sicherstellen, dass sie ihre Rechte kennen: Dies beinhaltet in erster Linie, dass die Kinder professionell beraten und ihre Anliegen an die Behörden weitergeleitet werden. Des Weiteren können Informationsbroschüren, in einfacher Sprache verfasst, die Kinder über ihre Rechtssituation aufklären. Die Befragungen müssen von geschultem Personal in angenehmer Atmosphäre stattfinden: Freundlich gestrichene Räume mit Spielsachen tragen dazu bei, dass sich Kinder schneller in der fremden Umgebung zurechtfinden und so die Fragen offener und ehrlicher beantworten können.
Nur wenn all diese Punkte gesetzlich verankert sind, können die zwingend nötigen Veränderungen herbeigeführt werden. Mit anderen Worten: Nur mit Hilfe einer OSKR kann der Stein ins Rollen gebracht werden.
Checkliste für Fachpersonen
Um Fachpersonen in der Durchführung kindgerechter Verfahren zu unterstützen, hat die FRA eine Checkliste erarbeitet. Diese gibt vor, wie Verfahrensschritte mit Kindern und Jugendlichen zu planen und durchzuführen sind. Auf diese Weise kann jeder überprüfen, wie kindgerecht Verfahren bereits ablaufen.
Wer selbst einen wertvollen Beitrag zu einem kindgerechten Rechtssystem leisten möchte, kann hier der OSKR-Allianz beitreten.